KALENDERBLATT OKTOBER 2017

Molekularbiologie-Pionier bei den Rostocker Biologen

Vor fünfzig Jahren hatten wir Rostocker Biologen einen der Gründerväter der Molekularbiologie zu Gast: Max Delbrück (1906-1981) vom California Institute of Technology in Pasadena. Am 24. Oktober 1967 sprach er im Rahmen der „Arbeitsgemeinschaft Genetik“ über „Molekularbiologie 1937“. Einen Tag darauf behandelte er „Phycomyces 1967“. Damals hatten wir am Institut noch genug Geld, um von einer kleinen Druckerei in der Kröpeliner Straße richtige Einladungen drucken zu lassen. Als diese ausgeliefert wurden, bekam ich einen Schrecken: Angekündigt wurde ein Vortrag unter dem nicht besonders originellen Titel „Molekularbiologie 1967“. Der aufmerksame Drucker hatte unseren Text korrigiert: 1937 habe es ja noch keine Molekularbiologie gegeben... Ich erklärte ihm, dass Delbrück tatsächlich auf das Jahr 1937 Bezug nehmen wollte, weil er damals gemeinsam mit zwei Kollegen in Berlin-Buch einen der Grundbausteine der Molekularbiologie gelegt hatte. Der Drucker sah das ein und lieferte uns kurzfristig und ohne weitere Kosten neu gedruckte Einladungen.

Einladung zum Biologischen Kolloquium (Quelle: Archiv des Autors).
Einladung zum Biologischen Kolloquium (Quelle: Archiv des Autors).
Erhard Geißler (li.) und Max Delbrück  (re.) in Pasadena im Sommer 1979 (Foto: privat).
Erhard Geißler (li.) und Max Delbrück (re.) in Pasadena im Sommer 1979 (Foto: privat).

Der Vortrag des Deutsch-Amerikaners fand allerdings zu einem ungewöhnlichem Datum statt: DDR-weit wurde zu Ehren des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution eine „Woche der Sowjetwissenschaft“ veranstaltet. Natürlich hatte ich Delbrück zuvor darüber aufgeklärt. Und deshalb erfasste meine Mithörer und mich gelindes Grausen, als er zu Beginn seines Vortrages über neurobiologische Studien am Pilz Phycomyces etwa so anhob: Heutzutage sei es üblich, herausragende Jahrestage zu feiern. Und so möchte er der 50. Wiederkehr des Jahrestages der Entdeckung des negativen Phototropismus durch Johannes Buder gedenken... Das Auditorium hielt den Atem an und mich wundert noch heute, dass der Spaß des schlitzohrigen Gelehrten von den Behörden offensichtlich nicht übel vermerkt wurde. Delbrücks Besuch hatte auch nachhaltige Auswirkungen auf unsere Literaturversorgung. Unser Gast hatte nämlich mit einigem Entsetzen festgestellt, dass es in Rostock offenbar kein einziges Exemplar der Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) gab, eine der wichtigsten naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften. Nach Pasadena zurückgekehrt schickte er mir in 18 Paketen die seit 1957 erschienenen Hefte der PNAS. Jeden Monat folgte ein weiteres Exemplar – bis zu seinem Tod im Jahre 1981. Dazu bemerkte er: „Ich hoffe, dies wird nicht zum Danaergeschenk werden, indem nun alle nur noch lesen statt zu arbeiten! Die Gefahr ist groß.“ Zwei Jahre nach seinem Besuch in Rostock wurde Delbrück mit dem Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin geehrt.

Erhard Geißler

Quellen

[1] E.P. Fischer: Das Atom der Biologen. Max Delbrück und der Ursprung der Molekulargenetik. Piper, München / Zürich, 1988.

[2] E. Geißler: „No West German translation for political and technical reasons …“ Erinnerungen an Max Delbrücks Einfluss auf die DDR-Genetik. In: M. Kaasch, J. Kaasch (Hrsg.): Das Werden des Lebendigen. VWB Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin, 2010, S. 169–201.