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Ulrich Vietinghoff – ein Rostocker Pionier der Ökosystemmodellierung

Von 1956 bis 1961 studierte Ulrich Vietinghoff in seiner Geburtsstadt Rostock zunächst ein Jahr Geologie, dann Biologie. Als wissenschaftlicher Assistent arbeitete er mit Stabheuschrecken und promovierte 1967 am Zoologischen Institut der Universität Rostock mit der Arbeit: „Untersuchungen über die Funktion der Rektaldrüsen der Stabheuschrecke Carausius morosus Br.“ unter der Leitung von Professor Ludwig Spannhof.


Mit Werner Schnese, seit 1970 Professor für Hydrologie in Rostock, gelangte das Thema Gewässerökologie, speziell der Darß-Zingster Boddenkette, in den Vordergrund. Algenmassenvermehrung infolge Gewässerverschmutzung, Folgen der Überfischung, z. B. durch Jungdorschfang zur Fischmehlproduktion, gelangten mehr und mehr in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. So war das Interesse groß, mit Hilfe mathematischer Modelle Entwicklungsprozesse in Ökosystemen simulieren zu können. In dieser Zeit wurden auch die ersten elektronischen Rechner an der Universität Rostock eingesetzt. Ulrich Vietinghoff arbeitete sich mit Enthusiasmus in die mathematische Modellierung von aquatischen Ökosystemen ein, die durch Differentialgleichungen darstellbar sind. Analogrechner sind hervorragend für deren Berechnung geeignet, der Verlauf der Entwicklung kann auf einem Monitor dargestellt und mit den Messwertkurven verglichen werden. Messdaten von Temperatur und Einstrahlung, Nährstoffein- und -austrag als Einflussgrößen sowie spezifische Reaktionen der Organismen darauf erlauben es, die Entwicklung der Organismen-Biomasse darzustellen.


Als ich (M.-L. Hubert) im März 1977 in der Biophysik bei Ulrich Vietinghoff zu arbeiten begann, zierten sechs kühlschrankgroße Analogrechner die Wand seines Arbeitsraumes. Seine Arbeiten mit dieser Rechnertechnik mündeten 1982 in der Habilitationsschrift mit dem Titel: „Die mathematische Modellierung des Ökosystems Barther Bodden als Beitrag zur Ökosystemanalyse der Boddenkette West.“ Die in dieser Schrift beschriebenen Modelle lassen sich übrigens heute unter SIMULINK fast identisch digital simulieren. Für die weitere Arbeit an diesem Thema absolvierte Ulrich Vietinghoff 1983 ein Zusatzstudium der Ökologie in Moskau. Von 1983 bis 1992 war er Hochschuldozent für Theoretische Ökologie und führte die Biologie-Studenten in die Biophysik ein.

Analogrechner im Arbeitsraum von Ulrich Vietinghoff zu Beginn der 1980er-Jahre am Universitätsplatz 2 (Foto: Sammlung Abteilung Biophysik).
Analogrechner im Arbeitsraum von Ulrich Vietinghoff zu Beginn der 1980er-Jahre am Universitätsplatz 2 (Foto: Sammlung Abteilung Biophysik).

Im Zusammenhang mit dem Bau des Kernkraftwerkes in Lubmin waren auch dort Messungen der Nährstoffparameter, der Entwicklung von Makrophytobenthos, von Phyto- und Zooplankton und der Fischpopulationen vorgenommen worden. In Zusammenarbeit mit Dr. Helmut Westphal, Biologe am Kernkraftwerk, sollte u. a. der Einfluss des Kühlwasser-Zustromes auf den ostrügenschen Frühjahreshering modelliert werden. Das Modell für die Darß-Zingster Boddenkette, inzwischen von seiner wissenschaftlichen Assistentin Bärbel Wiedemann für die ESER-Rechner im Rechenzentrum programmiert, konnte so auch für die Modellierung des Greifswalder Bodden genutzt werden.


Mathematische Modelle können immer nur so gut werden, wie die Datenbasis, auf der sie beruhen. Folgerichtig setzte Ulrich Vietinghoff alles daran, möglichst umfangreich verlässliche Daten gewinnen zu können. Für die Datenerfassung der Wasserparameter wurden ab den 1980er-Jahren zunehmend Messsonden eingesetzt. Die ersten Messwerte wurden über eine Fernsteueranlage FM7 gefunkt, die in dem kleinen Geschäft Bastelfreund am Margarethenplatz gekauft worden war. Automatisch arbeitende Messsonden wurden in enger Kooperation mit der Sektion Technische Elektronik sowie dem Technischen Gerätebau der Universität entwickelt und gebaut. Seinem ihn auszeichnenden nie nachlassenden Streben nach Erkenntnis und Verständnis folgend, nahm Ulrich Vietinghoff dazu von 1984 bis 1986 zusätzlich ein Postgradualstudium zum Fachingenieur für Mikroprozessortechnik an der Universität Rostock auf. 1993 wurde er zum Professor für Biophysik (C3) berufen.

Ulrich Vietinghoff beim Ausbringen von Messsonden auf dem Greifswalder Bodden 1995 (Foto: Sammlung Abteilung Biophysik).
Ulrich Vietinghoff beim Ausbringen von Messsonden auf dem Greifswalder Bodden 1995 (Foto: Sammlung Abteilung Biophysik).

Im Rahmen des Projektes GOAP wurden in den Jahren 1993 bis 1996 mehrere Messeinrichtungen im Greifswalder Bodden installiert. Beim Aufbau der Pontons, auf denen die Messsonden angebracht wurden, bei der Betreuung der Sonden mangelte es nicht an Fehlschlägen und Schwierigkeiten, z. B. durch Wetterprobleme und Korrosion. In anderen Forschungseinrichtungen, wie zum Beispiel im Institut für Ostseeforschung in Warnemünde, aber auch international, wurde nunmehr Modellierung hauptsächlich unter Berücksichtigung der Wasserströmung und des damit verbundenen Wasseraustausches betrieben. Die von Ulrich Vietinghoff praktizierten Ansätze zur Ökosystemmodellierung wurden von einigen Wissenschaftlern z. T. in Frage gestellt. Dennoch kämpfte Ulrich Vietinghoff unbeirrt mit großem Enthusiasmus an der Weiterführung der automatischen Datenerfassung. Seine Assistentin Anke Zölder bearbeitete das Thema „Digitale Bildverarbeitung zur automatischen Zooplanktonanalyse“ und beschäftigte sich mit der automatischen Auswertung von Luftbildern zur Abschätzung des Makrophytobenthos.


Mitten aus seinen Plänen für weitere Untersuchungen wurde Ulrich Vietinghoff – viel zu früh – am 21.10.1995 aus dem Leben gerissen. Das Projekt GOAP wurde von seinen Mitarbeitern und Partnern erfolgreich zu Ende geführt. Untersuchungen mit dem Ziel Ökosystemmodellierung wurden in der Biologie an unserer Universität zunächst nicht weiter verfolgt. Der Lehrstuhl Biophysik wurde anschließend von 1998 bis 2000 von Prof. Bernhard Wolf, seit 2004 von Prof. Jan Gimsa eingenommen, die auf anderen Gebieten der Biophysik forschen und lehren.


Wir danke Herrn Dr. Fred Lange und Dipl.-Ing.Peter Eschholz vo der Fakultät für Informatik und Elektrotechnik für ergänzende Hinweise zu diesem Artikel.


Maria-Luise Hubert und Sabine Fulda

Quelle:

Eintrag zu Ulrich Vietinghoff im Catalogus Professorum Rostochiensium: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00002147.