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Die Technische Chemie an der Universität Rostock von den Anfängen bis 1990

Bernhard Sthamer las als Privatdozent über Angewandte Chemie (Foto: privat).
Bernhard Sthamer las als Privatdozent über Angewandte Chemie (Foto: privat).
In diesem Gebäude befanden sich die Forschungslaboratorien der Technischen Chemie (Foto: privat).
In diesem Gebäude befanden sich die Forschungslaboratorien der Technischen Chemie (Foto: privat).

Wenn wir der Definition für „Technische Chemie“ von Johann Joseph von Prechtl (1778-1854) aus dem Jahr 1817 folgen, gehört sie zur Angewandten Chemie, zu der „...die physikalische, analytische, mineralogische, physiologische bez. Thierchemie, die gerichtliche, medicinische, pharmaceutische und Agriculturchemie..." gerechnet wurden. Weiter heißt es: „Wird endlich die Chemie zunächst nur vorzüglich auf die Erweiterung und Vervollkommnung der mit ihr in Verbindung stehenden Künste, Manufakturen und Gewerbe angewendet, so heißt sie ՙtechnische Chemie՚“ (1).

Die ersten Lehrveranstaltungen zur Angewandten Chemie finden sich in den Rostocker Vorlesungsverzeichnissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So hielt Gustav Maehl (1789-1833) Vorlesungen zur toxikologischen und analytischen Chemie, Heinrich Gustav Floerke (1764-1835) zur "experimentelle[n] Cameral- und agronomische[n] Chemie", Helmuth von Blücher (1805-1862) beschäftigte sich intensiv mit agrikulturchemischen Problemen. Privatdozenten wie Carl Friedrich August Theodor Kastner (1797-?) und Bernhard Sthamer (1817-1903) kündigten Lehrveranstaltungen auf dem Gebiet der Angewandten Chemie an. Sthamer stellte sogar einen Antrag auf eine außerordentliche Professur für Angewandte Chemie, der in Schwerin nicht erhört wurde, weswegen er die Universität recht bald verließ. Besonders die Agrikulturchemie wurde durch Franz Ferdinand Schulze (1815-1873) gefördert, die erste Professur für Agrikulturchemie wurde jedoch erst 1875 eingerichtet.

Heute versteht man unter Technischer Chemie die wissenschaftlichen Grundlagen der Technologie und die chemische Seite des Chemie-Ingenieur-Wesens (2). Die universitäre Lehre umfasst die Abschnitte: Chemische Reaktionstechnik, Grundoperationen, Chemische Prozesskunde und das Technisch-Chemische Praktikum.

Bereits in den 1950er Jahren gab es Bemühungen, eine entsprechende Professur einzurichten. Doch erst unter Professor Günther Schott (1921-1985) gelang die Etablierung der Vorlesungsreihe „Anorganisch-chemische Technologie“, wofür Eberhard Fischer einen Lehrauftrag erhielt. Dieser wurde 1967 dann auch Dozent für Technische Chemie.

Infolge der Dritten Hochschulreform in der DDR entstand die Sektion Chemie mit den Fachbereichen Anorganische, Organische, Physikalische, Analytische und Technische Chemie. Wenig später wurden die Analytische und die Technische Chemie zum Wissenschaftsbereich Angewandte Chemie zusammengeschlossen, in die auch die aus der Philosophischen Fakultät herausgelöste Methodik des Chemieunterrichts eingegliedert wurde. Das hatte einen recht positiven Nebeneffekt: Bei wichtigen Entscheidungen in der Sektion Chemie konnte die Angewandte Chemie nicht hoffnungslos von den zahlenmäßig deutlich stärkeren Bereichen der Organischen und Anorganischen Chemie überstimmt werden.

1969 wurde Eberhard Fischer zum Professor für Technische Chemie ernannt. Er hatte sich durch Industrieaufenthalte – z.B. bei den VEB Leuna-Werken „Walter Ulbricht“ – eingehend mit industriellen Problemen der chemischen Technologie vertraut gemacht und konnte damit umfangreiches Praxiswissen in die Ausbildung der Chemiestudenten einfließen lassen. Zu dem Lehrstuhl für Technische Chemie gehörten zwei Assistenten und eine Laborantin. Eine wirklich technische Ausstattung gab es kaum. So wurde mit viel Eigeninitiative und Optimismus nahezu alles in Eigenregie entwickelt und mit Hilfe der hervorragend qualifizierten Mitarbeiter in der mechanischen Werkstatt der Sektion Chemie gebaut.

Ab 1967 wurde mit dem Aufbau eines Technisch-Chemischen Praktikums durch die Assistenten  Dr. Rainer Evers und Dr. Jupp Kreutzmann begonnen. Auch dafür entstanden viele Apparaturen im Eigenbau. 1969 konnte das Praktikum in kleinen Kellerräumen der Sektion Chemie (damals in der Rostocker Buchbinderstraße 9) eröffnet werden. Neben diesem Praktikum und den Vorlesungen und Seminaren wurden regelmäßig Exkursionen angeboten, so  zur Zuckerfabrik in Güstrow-Primerburg und zur Freude aller Studenten in die Rostocker Brauerei. Zum Aufgabengebiet der Technischen Chemie gehörte auch die Organisation eines dreimonatigen Betriebspraktikums in Leuna, Bitterfeld, Piesteritz, Schwarzheide oder später auch in Poppendorf bei Rostock; die zukünftigen Chemiker arbeiteten direkt in der Produktion oder an kleinen Forschungsaufgaben.

Forschungsschwerpunkte in der Arbeitsgruppe von Eberhard Fischer waren die Cyankohlenwasserstoffe (Dicyanamid), die Ammoxidation, die Synthese von aromatischen Nitrilen und die Gasphasenkatalyse mit Kresolen. Die für die Forschung genutzten zwei Labore befanden sich im sogenannten „Seminargebäude“ auf dem Hofgelände hinter dem Hauptgebäude der Universität am Universitätsplatz. Als ich 1984 in die Arbeitsgruppe kam, brachte ich als weiteren Forschungsschwerpunkt die Elektrosynthese in die Technische Chemie ein. Dieses Gebiet wurde bis Anfang der 1990er Jahre bearbeitet. Es darf angemerkt werden, dass es seit 2014 wieder eine eigenständige Forschung auf dem Gebiet der Elektrosynthese in der Technischen Chemie gibt.

Dr. Wolfgang Ruth

Quellen

[1] J. J. Prechtl: Grundlehre der Chemie in technischer Beziehung. Carl Gerold, Wien, 1817, S.7.
[2] E. Bartholomé: Geschichte der technischen Chemie in Deutschland. In: Chem. Ing. Technik 48 (1976) S. 914.
[3] E. Fischer, H. Kelling, H. U. Kibbel, K. Uhle: Die Entwicklung der Fachrichtung Chemie an der Universität Rostock nach deren Wiedereröffnung 1946 und die Gründung der Sektion Chemie. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 18 (1969), Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe, Heft 8, S. 1019-1035.