Goldene Doktorurkunde mit 18 Jahren Verspätung übergeben

Seit dem Jahre 2009 pflegt die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät die Tradition, Goldene Doktorurkunden zu verleihen und damit die Doktorwürde zu erneuern. Durch die Arbeitsgruppe „Geschichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät“ wurde eine Übersicht aller Promotionen der Jahre 1945 bis 1969 erstellt. Auf deren Grundlage versuchen wir, unsere Alumnis aufzufinden. In diesem Zusammenhang stieß ich auch auf die Tatsache, dass am 14. April 1945 eine Promotion einer Frau in der Chemie stattgefunden hat. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich dieser Frau einmal gegenüberstehen würde.

Brigitte Sarry, geboren im Jahr 1920, wohnt heute in Berlin. Da sie am Leben der Gesellschaft Deutscher Chemiker teilnimmt, konnte ich ihre Anschrift ermitteln und Kontakt zu ihr aufnehmen. Bei unserem ersten Telefonat brachte Frau Professor Sarry zum Ausdruck, dass sie sich über die Goldene Doktorurkunde der Universität Rostock freuen würde, auch wenn sie eigentlich schon im Jahre 1995 hätte überreicht werden müssen!

Dank der Unterstützung durch Dekan und Promotionsbüro konnten wir unserer ehemaligen Doktorandin diesen Wunsch erfüllen.

Wer aber ist Brigitte Sarry? Sie stammt aus Allenstein in Ostpreußen. In Tilsit besuchte sie die Grundschule und das Lyzeum, später setzte sie die Schulausbildung in Göttingen fort. 1939 erhielt sie das Reifezeugnis und begann im gleichen Jahr nach Ableistung des Pflichtarbeitsdienstes das Studium der Chemie an der Universität in Göttingen. Dort wurde sie Schülerin von Günther Rienäcker (1904-1989) und arbeitete als Hilfsassistentin am Allgemeinen Chemischen Laboratorium. Da Rienäcker 1942 eine Lehrstuhlvertretung in Rostock übernahm und später hier ordentlicher Professor für Anorganische Chemie wurde, folgte sie ihrem Lehrer.

Frau Sarry erzählte, dass Herr Rienäcker sie gefragt hätte, ob sie zu diesem Wechsel bereit wäre. Sie solle aber lieber vorher mit ihm nach Rostock kommen, um sich das Institut anzuschauen. Das war im Sommer 1942, als Teile des Instituts zerstört waren. Sie erinnerte sich sehr gut an das gemeinsame Mittagessen mit dem Organiker Kurt Maurer (1900-1945)  im Rostocker Hof, bei dem es Plötzen gab. Alle waren sehr hungrig, aber wegen der vielen feinen Gräten schafften sie es nicht, die Fische wirklich aufzuessen.

Frau Sarry entschied sich für Rostock und beendete bereits hier am 14. Dezember 1942 mit der Diplom-Chemiker-Hauptprüfung ihr Studium. Sie ist eine der ersten „Diplom-Chemiker“ gewesen. Vorher gab es nur das Verbandsexamen. Sie erhielt eine Assistentenstelle. Ihren Arbeitsplatz hatte Frau Sarry im Erdgeschoss des Pavillons, der sich im Hof des Chemischen Instituts in der Buchbinderstraße befunden hat. Dort führte sie die Untersuchungen zur Para-Wasserstoff-Umwandlung an Kupfer-Platin-Legierungen durch, mit denen sie dann 1945 promoviert wurde. Sie erzählte, dass ihre Doktorprüfung eigentlich für Ende April angesetzt war. Aufgrund der vorgerückten Front kam Professor Rienäcker am 13.4. 1945 zu ihr und empfahl, die Prüfung lieber schon am nächsten Tag durchzuführen. In Windeseile wurde die Prüfungskommission zusammengerufen und die Kandidatin geprüft. Frau Sarry berichtete, dass die Prüfer dann gleich wieder vor die Stadt mussten, um Schutzgräben auszugraben. Mit dem Prüfungsprotokoll in der Hand folgte sie den Prüfern und holte sich in den Gräben die Unterschrift.

Neben ihrer Forschungsarbeit war Frau Sarry in die Lehre einbezogen. Sie konnte sich noch gut an den Hörsaal 2 in der Buchbinderstraße erinnern, der damals als großer Hörsaal bezeichnet wurde. Der kleine Hörsaal war der spätere, auch durch die Bibliothek genutzte Seminarraum. Frau Sarry hielt unter anderem Vorlesungen für die Medizinstudierenden und ist damit eine meiner VorgängerInnen. Sie hat aber auch wesentlichen Anteil am Ausbildungsgang des aus Schwerin stammenden Werner Hanke, des späteren Mitarbeiters und Herausgebers der Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie. Da dieser wegen seiner bürgerlichen Herkunft nicht Chemie studieren durfte, wurde er 1951 von Günther Rienäcker als Hilfslaborant eingestellt und der Arbeitsgruppe von Brigitte Sarry zugewiesen. Unter ihrer Betreuung war er nach einem Jahr fachlich weiter als die regulären Chemiestudenten und wurde Vorlesungsassistent. Schließlich erhielt Hanke die Zulassung für das Studium.

1954 habilitierte sich Frau Sarry und wurde am 01.09.1954 zur Dozentin für Anorganische Chemie ernannt. Sie erhielt einen Ruf an die neu gegründete Technische Hochschule Leuna-Merseburg, den sie ablehnte. Während des Sommersemesters 1955 absolvierte sie einen Studienaufenthalt an der Technischen Hochschule Stuttgart und wurde dann Dozentin für Anorganische Chemie an der Universität in Halle. Während der Verhandlungen im Zusammenhang mit der Berufung auf ein Extraordinariat in Jena flüchtete sie Ende 1958 nach Westberlin, wo sie durch ein Sonderprogramm nach anfänglich schwierigsten Umständen schließlich eine Stelle an der Technischen Universität erhielt. Sie wurde wissenschaftliche Rätin, dann apl. Professorin. Im März 1969 wurde Frau Sarry zur ordentlichen Professorin berufen.

Sie arbeitete am Institut für Anorganische und Analytische Chemie der TU auf dem Gebiet der metallorganischen Verbindungen der Übergangselemente, dadurch gab sie wichtige Anstöße zur Entwicklung der homoleptischen Metallorganyle.

Im Herbst 1982 ließ sich Frau Professor Sarry aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Sie nimmt aber bis heute am wissenschaftlichen Leben ihres Instituts Anteil, schließlich war es gar nicht einfach, einen Termin für einen Besuch zu vereinbaren, denn Frau Sarry geht nicht nur zu Vorträgen, sondern besucht auch zahlreiche Konzerte.

Diese Musikbegeisterung war auch schon in Rostock vorhanden. Eine Zeitlang wohnte Frau Sarry in Rostock in der Schliemannstraße 3. In dem Haus gegenüber lebte Kurt Maurer. Häufig kam Günther Rienäcker zu Besuch, die Herren musizierten dann gemeinsam. Frau Sarry wurde oft eingeladen, an diesen Konzerten teilzunehmen. Dabei lernte sie auch das Violinkonzert von Mendelssohn kennen, das zu jener Zeit nicht gespielt werden durfte. Es war als jüdische Musik verfemt.

Frau Professor Sarry ist bis heute die einzige Frau am Institut für Chemie der Universität Rostock, die den Rang einer Hochschullehrerin erreicht hat (vgl. dazu: http://cpr.uni-rostock.de/metadata/cpr_person_00002665).