KALENDERBLATT APRIL 2016

Als Mikrobengenetiker in Rostock: 1964-1983

Erhard Geißler hielt Vorlesungen nicht ohne Leidenschaft - wie hier in Rostock um 1970 (Foto: Privatbesitz des Autors).

Vor reichlich 50 Jahren, am 22. April 1965, beantragte die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Rostock, das Institut für Mikrobiologie in Institut für Mikrobengenetik umzubenennen. Der Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen stimmte zu. Damit wurde in Rostock das erste Universitätsinstitut für Genetik in der DDR gegründet. Zum Direktor wurde ich ernannt.

Zuvor war ich zum Professor mit Lehrauftrag für das Fachgebiet Mikrobengenetik an die Universität Rostock berufen worden, und zwar gegen den erklärten Willen des Rektors und der Kaderleiterin [1]. Die nahmen Anstoß daran, dass ich am 6. November 1956, obwohl damals Mitglied der Parteileitung der Akademie- Institute in Berlin-Buch, meinen Austritt aus der SED erklärt hatte, als die Rote Armee in Budapest einmarschierte [2].

Mit meiner Berufung wurde einmal mehr die nach der friedlichen Revolution häufig geäußerte Meinung widerlegt, in der DDR hätte man nur zum Professor oder in andere akademische Würden berufen werden können, wenn man SED-Mitglied war. Für die Rostocker Biologen galt das jedenfalls bis zur Dritten Hochschulreform nicht. Ich wurde sogar im August 1966 vom Fakultätsrat zum 2. Prodekan gewählt: ein Ex-Genosse wurde verantwortlich für Ausbildung und Erziehung. Und ein weiteres halbes Jahr später berief mich der Rektor zum Mitglied der Senatskommission für Internationale Verbindungen [3].

Die Lehrtätigkeit machte mir großen Spaß, zumal ich ja vor allem über die überaus spannenden Entwicklungen in der Molekularbiologie vorzutragen hatte. Dank guter Westkontakte [2] konnte ich gelegentlich sogar über noch laufende Forschungsvorhaben und unveröffentlichte Befunde informieren. 16 profilierte internationale Kolloquiumsgäste erweiterten das aktuelle Informationsangebot, darunter der spätere Nobelpreisträger Max Delbrück (1906 – 81) [4].

Einer Anregung Delbrücks folgend setzte ich in den ersten Stunden Fünf- Mark-Stücke als Prämien für gute Zwischenfragen aus. Das belebte den Unterricht überaus, wurde mit der Zeit aber zu teuer. Der Geldhahn wurde zugedreht, aber die Lebendigkeit der Vorlesungsatmosphäre blieb und zwischen den Studenten und mir entwickelte sich bald ein sehr gutes Vertrauensverhältnis. Von meinem Vorgänger erbte ich zwar sieben technische Mitarbeiterinnen, aber nur eine Wissenschaftlerin, die jedoch überwiegend mit ihrer laufenden Doktorarbeit beschäftigt war. Nach und nach gelang es mir jedoch, unsere Gruppe durch mehrere Doktoranden und Wissenschaftler zu verstärken. In unserer Forschung über molekulargenetische Regulationsund Reparaturmechanismen waren wir zwar auf dem neuesten Stand – stießen allerdings immer wieder an die DDR-weiten Grenzen der Beschaffung von Biochemikalien und Laborgeräten.

Es wurde nicht nur hart und motiviert gearbeitet, sondern auch kräftig und begeistert gefeiert, regelmäßig auch mit Studenten und Kollegen: E. A. Arndt, E. Geißler, L. Spannhof, W. Libbert und E. Libbert (v. l. n. r.) beim Bergfest 1968 (Foto: Privatbesitz des Autors).

Auch die Versorgung mit Fachliteratur war schwierig und unzulänglich. Das traf insbesondere auch die Biologielehrer. Wir beteiligten uns deshalb nicht nur aktiv an der Überarbeitung der Biologie-Lehrbücher, sondern gaben auch einschlägige Bücher heraus, unter anderem den Sammelband DNS – Schlüssel des Lebens. Der erschien 1970, gerade rechtzeitig zum Erlass neuer Biologie-Lehrpläne, in denen für die Klassen 10 und 12 seit 20 Jahren erstmals wieder Genetik-Unterricht vorgesehen war. Die meisten Lehrer waren dafür aber nur unzureichend vorbereitet, weil sie selbst keine Ausbildung in Genetik genossen hatten. Ich gewann deshalb den Akademie- Verlag zu der für DDR-Verhältnisse völlig ungewöhnlichen Aktion, den Biologie-Lehrern den Schlüssel zu einem Subskriptionspreis anzubieten. Das wurde gut angenommen und wir mussten in kürzester Zeit eine zweite Auflage nachlegen. Darüber hinaus übersetzten wir eine sehr informative Darstellung über Phagen und die Entwicklung der Molekularbiologie, die sogenannte „Delbrück-Festschrift“, ins Deutsche (deren Veröffentlichung aus ideologischen Gründen aber fast gescheitert wäre).

Erfolglos blieben dagegen unsere Bemühungen, eine Spezialausbildung in Genetik für Diplombiologen anzubieten, wozu sich auch die genetisch orientierten Einrichtungen der Landwirtschaftlichen und Medizinischen Fakultät gern bereit erklärt hatten. Es gelang uns wenigstens, im Mai 1966 eine Arbeitsgemeinschaft Genetik an der Universität Rostock zu gründen, mit dem Pädiater Heinrich Kirchmair als Vorsitzenden und mir als Schriftführer. Eine herausragende Aktivität der Arbeitsgemeinschaft Genetik war die Veranstaltung einer Tagung über Humangenetik und die Zukunft des Menschen im Oktober 1966 in Warnemünde. Deren Ziel war es, „die Wissenschaftler unserer Republik und die entsprechenden staatlichen Gremien auf die vorhandene, in der DDR bisher völlig vernachlässigte Problematik“ humangenetischer Forschung und Lehre hinzuweisen. Hauptforderungen der angeregten Diskussionen waren die Einführung von obligatorischen Vorlesungen über Humangenetik an den Medizinischen Fakultäten, die Einrichtung genetischer Beratungsstellen sowie die Einführung von Mutagenitätsprüfungen, vor allem von Produkten der chemischen und Arzneimittelindustrie sowie eine republikweite Weiterbildung der Biologielehrer, vor allem in Genetik. Schon ein halbes Jahr später fand beim Leiter der Abteilung Wissenschaft und Ausbildung des Gesundheitsministeriums eine Beratung zur Entwicklung der Humangenetik in der DDR mit einem Teilnehmer der Warnemünder Tagung und einem weiteren Genossen Mediziner statt. Dabei wurde festgelegt, dass das Ministerium „mit der Entwicklung einer Humangenetik in der DDR einverstanden ist“ [1]. Es dauerte aber dann doch noch mehrere Jahre, bis das Ministerium 1971 offiziell ein Projekt Humangenetik ins Leben rief.

Unabhängig davon kamen Anfang 1968 Vertreter einschlägiger Einrichtungen aus Berlin-Buch und Rostock der auf unserer Tagung erhobenen Forderung nach Mutagenitätsprüfungen nach und gründeten eine sozialistische Arbeitsgemeinschaft Präventivmedizin. Zielstellung war es, „in theoretischen Untersuchungen Einblick in die Bedeutung exogener Noxen für die Krebsentstehung und Mutagenese [zu erlangen, wobei] vorzugsweise [. . . ] in die Untersuchungen Lebensmittelzusätze, Genussmittelbestandteile und pestizide Verbindungen einbezogen werden“ sollten. In auch bei uns in Rostock durchgeführten Experimenten konnten wir 1969 nachweisen und publizieren, dass Fuselöle – Komponenten von Whisky und anderer brauner Schnäpse – mutagen sind.

Zu dieser Zeit bestand unser Institut aber schon nicht mehr. Im zweiten Halbjahr 1968 wurden die Beschlüsse der Dritten Hochschulreform durchgesetzt. Die Institute wurden aufgelöst und wir wurden Forschungsgruppe Mikrobengenetik. Die passte aber nicht ins Profil der neuen Sektion Biologie. Gern wäre ich geblieben und dem Angebot der Mediziner gefolgt, in deren im Aufbau befindliche Abteilung Immunologie zu wechseln. Diesmal war der Rektor dafür, aber das Ministerium dagegen. Also zog ich 1970/71 mit meinen Wissenschaftlern nach Berlin-Buch um und begann, über tierische Zellen und Viren zu arbeiten [2]. In Ermangelung eines Nachfolgers konnte ich aber wenigstens meine genetische Lehrtätigkeit in Rostock noch bis ins Jahr 1983 hinein fortführen.

Erhard Geißler

Quellen

[1] Vorlass Erhard Geißler in Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, Bestand Buch, Nr.A 1544.

[2] E. Geißler: Drosophila oder die Versuchung. Ein Genetiker der DDR gegen Krebs und Biowaffen. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2010.

[3] Eintrag zu Erhard Geißler im Catalogus Professorum Rostochiensium: purl.uni-rostock.de/cpr/00002343

[4] E. Geißler: Als Mikrobengenetiker in Rostock: 1964 –1983. Ausführlicher Text.