KALENDERBLATT SEPTEMBER 2016

Else Hirschberg (1892-1942) – Das Schicksal der ersten Chemieabsolventin

In einem Rostocker Laboratorium zwischen 1916 und 1920 (Foto: mit freundlicher Genehmigung der Familie Klosmann-Dyck)

Die erste Studentin, die in Rostock erfolgreich ein Chemiestudium abgeschlossen hat, ist Else Hirschberg. In den Berichten des Verbandes der Laboratoriumsvorstände findet sich unter der Verbandsexamensnummer 9980 ihr Name mit dem Hinweis, dass das Zeugnis am 25. Juli 1913 ausgestellt worden sei. Im Matrikelportal wird sie 1928 als Medizinstudentin erwähnt. Aus dem Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1908 geht hervor, dass Else Hirschberg als Gasthörerin ihr Chemiestudium absolviert hat.

Wer war diese Else Hirschberg? Sie wurde am 11. Februar 1892 in Berlin geboren. Else besuchte Schulen in Berlin, Königsberg und Rostock, wo sie mit ihrer Mutter und den drei Schwestern Paula (1893-1939), Hertha (1896-1943) und Margot (1900-1942) seit 1908 in der Schillerstraße 29 lebte. Else hat das Verbandsexamen bei August Michaelis (1847-1916) absolviert und unter seiner Leitung eine größere Arbeit angefertigt, mit der sie promovieren wollte. Sie hatte ihre Schulausbildung jedoch ohne Abiturprüfung beendet. Damit war laut geltender Ordnung die Promotion nicht möglich. Auch Elses Antrag auf Dispens von dieser Festlegung wurde nicht bewilligt.

Noch 1913 erschien die erste selbstständige Publikation von Else Hirschberg unter dem Titel Die quantitative Bestimmung von geringen Mengen Traubenzucker im Harne mittels der Bertrand'schen Methode. Unter dem Pharmakologen Rudolf Kobert (1854-1918) entstand 1917 eine Arbeit über die Pharmakologie des Maiblümchens. Ab 1917 hatte Else Hirschberg – immer wieder befristet – eine Stelle als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin, teilweise auch als technische Assistentin, im Physiologischen Institut der Universität Rostock. Sie bewältigte ein ungeheures Arbeitspensum, war wissenschaftlich aktiv und absolvierte 1927 eine dem Abitur äquivalente Prüfung, die ihr sowohl die Promotion an der Philosophischen Fakultät als auch das für eine reguläre Anstellung an der Medizinischen Fakultät notwendige Medizinstudium ermöglichte. Bis 1932 sind mindestens 22 wissenschaftliche Arbeiten entstanden.

Am 22. Mai 1933 erhielt Else Hirschberg die Nachricht, dass sie zum 1. Juli 1933 aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen wird. Bis zu diesem Termin sei sie beurlaubt, da sie "für den Unterricht auf keinen Fall mehr in Frage kommt". [3]

Else ging dann später nach Hamburg und erhielt eine Stelle als Laborleiterin am Israelitischen Krankenhaus. Spätestens 1938 begann sie mit dem Kampf um eine Ausreisemöglichkeit. Dazu nutzte sie ihre offenbar guten Kontakte zu William Albert Noyes (1857-1941), den sie im Juni 1924 bei der Tagung des Deutschen Chemikervereins in Rostock kennen gelernt und mit dem sie in lockerer brieflicher Verbindung gestanden hatte. Doch Else gelang es nicht, Deutschland zu verlassen. Ihr Name findet sich in den Deportationslisten der Hamburger Gestapo; sie wurde am 11. Juli 1942 nach Auschwitz gebracht. Das genaue Todesdatum konnte nicht ermittelt werden.

In Erinnerung an das Schicksal von Else Hirschberg und ihren im Holocaust umgekommenen Schwestern wollen wir im Sommer 2017 einen Denkstein in der Rostocker Schillerstraße legen lassen.

Gisela Boeck und Tim Peppel

 

Ausgewählte Quellen

[1] Eintragung im Rostocker Matrikelportal: purl.uni-rostock.de/matrikel/200024018
[2] Verzeichnis der Behörden, Lehrer, Beamten, Institute und Studierenden der Universität Rostock Wintersemester 1908/09 bis Wintersemester 1912/13. Rostock, Adlers Erben. 
[3] Universitätsarchiv Rostock, Studentenakte, Personalakte, Promotionsakte von Else Hirschberg.
[4] Senat der Hansestadt Hamburg (Hrsg.): Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Hamburg. Hamburg, 1965.

Eine vollständige Literaturliste kann bei den Autoren erbeten werden.