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Chemie am Rosengarten - legendär

Eine unscheinbare Holzbaracke - versteckt hinter Bäumen und einem hohen Bretterzaun. Hier verdienten sich Generationen von Chemie-Studenten, Lehramtsstudenten, sogenannten Nebenfächlern und Lehrlingen ihre ersten Meriten bei chemischen Praktika.

Diese Baracke, die im Zweiten Weltkrieg in Prora auf der Insel Rügen gestanden hatte, war – ursprünglich als Übergangslösung für zwei Jahre – 1953 am Rosengarten errichtet worden. Schließlich musste sie statt der geplanten kurzen Zeit 38 Jahre durchhalten. 96 Arbeitsplätze in vier Praktikumsräumen und einige Nebenräume standen den Studenten und Lehrlingen zur Verfügung. Ende der 1960er Jahre  wurde ein Raum zum Glas- und Chemikalienlager umfunktioniert.

Bis zur Neugestaltung des Studiums im Zusammenhang mit der Dritten Hochschulreform verbrachten die Chemie-Studenten in den ersten zwei Jahren neben den Vorlesungen die Wochentage im Wesentlichen an ihrem Arbeitsplatz in der Baracke. Es war ein umfangreiches Pensum an Analysen und Präparaten zu bewältigen. Die Räume konnten von morgens bis abends genutzt werden – ohne dass eine Aufsicht anwesend war. Erst am späten Nachmittag kam der zuständige Assistent aus dem Institutsgebäude in der Buchbinderstraße herüber. Er nahm die Ergebnisse entgegen und gab entsprechende Hinweise. Ansonsten nutzte man Erfahrungen und Hilfe der Kommilitonen. Auch wenn zu Beginn der 1950er Jahre sehr viele Chemiestudenten immatrikuliert worden waren, sank die Zahl bereits Ende jenes Jahrzehnts, sodass dann in jedem Studienjahr rund 25 Studenten waren. Zwischen den Studienjahren  gab es einen engen Zusammenhalt. Das selbständige Arbeiten mit uneingeschränktem Zugang zu Chemikalien und wohl auch das Tragen eines ehemals weißen und später durch Säuren zerfressenen Kittels machten stolz, man hob sich von anderen Fachrichtungen ab. In der Baracke wurde gearbeitet, gegessen, getrunken und gefeiert.

Blick auf die Laborbaracke um 1975 (Foto: Sammlung des Instituts für Chemie)
Blick auf die Laborbaracke um 1975 (Foto: Sammlung des Instituts für Chemie)
Im chemischen Praktikum Ende der 1950er Jahre (Foto: Sammlung des Instituts für Chemie)
Im chemischen Praktikum Ende der 1950er Jahre (Foto: Sammlung des Instituts für Chemie)

Chemie in solch einem Gebäude zu betreiben, ist für uns heute unvorstellbar. Schließlich bestand fast alles aus Holz und Presspappe - Türen, Zwischenwände und Fenster. Die Fensterläden mussten abends geschlossen werden. Irgendwann wurden sie auf einer Seite wegen nicht mehr zumutbarer Reparatur einfach vernagelt, sodass bei Lampenlicht gearbeitet werden musste. In jedem Praktikumssaal standen zwei Kachelöfen, die im Winter ständig mit Braunkohlebriketts befeuert werden mussten. Nachdem die Stelle eines Hausmeisters eingespart worden war, übernahmen Studenten gegen Bezahlung das Heizen. Hatten diese verschlafen, war es zu Arbeitsbeginn manchmal bitterkalt in den Räumen. Man behalf sich, indem alle Bunsenbrenner an den Arbeitsplätzen in Betrieb genommen wurden!

Die durchaus funktionierenden Abzüge hatten nur symbolischen Wert. Die über das flache Dach abgesaugten Gase und Dämpfe kamen durch die Fenster und Türen wieder zurück in die Räume. Die Studenten standen ständig in einem Dunst aus Schwefelwasserstoff, Ammoniak und oder Chlorwasserstoff und anderen nicht unbedingt gesundheitsfördernden Gasen. Anlieger beschwerten sich regelmäßig zu Recht.

Natürlich gab es Betriebsbegehungen, die katastrophale Lage in der Baracke war auch in der Universitätsleitung bekannt – doch ein Neubau des Chemischen Instituts kam nicht zustande. Die Baracke wurde mit Ausnahmegenehmigungen weiter betrieben, da man bei Einstellung des Betriebes die Ausbildung in den Fachrichtungen Chemie, Pharmazie, Physik, Geologie, Pädagogik, Biologie, Medizin, Landwirtschaft und Schiffbau gefährdet hätte. In einem Schreiben vom 12.9.1961 forderte der Direktor des Instituts für Anorganische Chemie, Günther Schott (1921-1985), eine völlige Generalüberholung und die Anschaffung moderner Labormöbel, da nur einfache Holztische ohne Abstellmöglichkeiten vorhanden seien [1]. Noch 1965 heißt es in einem Bericht: „Das in den Laboren vorhandene Mobiliar ist so alt wie die Baracke und demzufolge sehr abgenutzt, mit chemischen Flüssigkeiten durchtränkt und teilweise verzundert.“ Der Instandsetzung der Baracke wurde zugestimmt, damit sie noch „drei bis fünf Jahre voll funktionstüchtig sei“ [2]. Einige Jahre später gab es schließlich tatsächlich neue Labormöbel.

In der Baracke war spätestens 1958 auch ein kleines Labor für den für das Gebäude verantwortlichen Assistenten geschaffen worden, der dort seine Dissertation anfertigte - unter den beschriebenen Bedingungen sicherlich nicht einfach. Insgesamt waren es 12 sogenannte "Barackenchefs". Außerdem war seit den 1960er Jahren eine Laborantin ständig vor Ort.

Die 1991 immatrikulierten Chemiestudentinnen und -studenten waren die letzten, die in der Baracke am Rosengarten ihre ersten chemischen Experimente durchgeführt haben. Im folgenden Jahr erfolgte der Umzug in die Räume der ehemaligen Schule für Veterinärmedizin im Dr.-Lorenz-Weg – wiederum als Zwischenlösung – und dann endlich 2001 in das neue Gebäude des Instituts für Chemie auf dem Südstadt-Campus. 1994 wurde die Laborbaracke abgerissen, schwere Technik war nicht nötig, ein normaler Bagger reichte. Anschließend wurde die Fläche begrünt.

Dieter Lange und Gisela Boeck

Quellen

[1] Universitätsarchiv Rostock, Math.-Nat. Fak. 230, Institut für Anorganische Chemie, Erziehung und Ausbildung 1948-1965, Brief von Günther Schott vom 12.9.1961.

[2] Universitätsarchiv Rostock, Math.-Nat. Fak. 230, Institut für Anorganische Chemie, Erziehung und Ausbildung 1948-1965, Protokoll vom 5.4.1965 über die am 31.3.1965 stattgefundene Betriebsbegehung.