KALENDERBLATT MÄRZ 2017

In dunkler Zeit – Rostocker Mathematiker zwischen 1933 und 1935 (I)

Robert Furch, Foto aus [5].

Das Rostocker Mathematische Seminar bestand 1933 lediglich aus dem Ordinariat, einem planmäßigen Extraordinariat und einer Hilfsassistentenstelle, die i. d. R. halbjährig wechselnd durch Postdoktoranden besetzt wurde.

Das Ordinariat hatte seit 1928 in Nachfolge Otto Staudes der Geometer Robert Furch (1894 - 1967) inne. Zu dessen mathematischen Lehrern zählten in Tübingen Alexander von Brill (1842 - 1935) und Ludwig Maurer (1859 - 1927) sowie postgradual in Göttingen Felix Klein (1849 - 1925) und David Hilbert (1862 - 1943). Furch habilitierte 1923 in Hamburg als Assistent Wilhelm Blaschkes (1885 - 1962). Nach seinem Ruf an die Universität Rostock bestand diese enge Beziehung zum Hamburger Mathematischen Seminar weiter. Furch pflegte sie durch regelmäßige Besuche und nutzte sie zur Gewinnung geeigneter Nachwuchs­­wissen­­schaftler.

Das Extraordinariat bekleidete als Nachfolger des ebenfalls aus der Hamburger Schule stammenden Otto Schreier (1901 - 1929) der Differentialgeometer Gerhard Thomsen (1893 - 1934). Damit wurde einer der begabtesten und kreativsten Mathematiker dieses Forschungsgebietes gewonnen. Thomsen hatte 1923 in Hamburg promoviert, zwischen 1926/27 als Rockefeller-Stipendiat in Rom bei Tullio Levi-Civita (1873 - 1941) gearbeitet und 1928 unter Blaschke habilitiert. Er gehörte bald zu den engsten Mitarbeitern Blaschkes und war mit ihm freundschaftlich verbunden.

Furch und Thomsen waren gleichzeitig die Direktoren des Mathematischen Seminars, wobei - bis auf wenige Ausnahmen - die Geschäftsführung bei Furch lag. Beide Professoren gehörten dem Konzil der Universität an.

Gerhard Thomsen, Foto UAR.

Schon 1932 und noch verstärkt nach dem Machtantritt Hitlers begannen auch an der Universität Rostock die nationalsozialistische Gleichschaltung und die Durchsetzung des Führerprinzips. Der allgegenwärtige Druck der nationalsozialisti­schen Studenten- und Dozentenschaft sowie Aufrufe des Rektors Paul Schulze (1887 - 1949) zwangen Studierende und Lehrende, sich öffentlich zum Führer zu bekennen. Am 11. November 1933 fand in Leipzig eine sogenannte Feier der nationalsozialistischen Revolution statt, auf der das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat vorgetragen wurde. Im Gegensatz zu Blaschke fuhren Furch und Thomsen nicht zu dieser Veranstaltung.

Robert Furch war Mitglied und Zweigleiter der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (Rostock) und stand trotz zunehmender Anfeindungen zu deren Werten, was durchaus Mut verlangte. Dem musischen und feinsinnigen Furch war die nationalsozialistische Rhetorik fremd. Verfechter der NS-Ideologie hielt er für "zu dumm, um zu verstehen, was Anthroposophie ist; daher werden sie uns nicht verfolgen." [1] Doch er irrte: Am 1. November 1935 wurde die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland per Dekret verboten.

Der eher als apolitisch geltende Gerhard Thomsen exponierte sich am 22.11.1933 mit einem dreiteiligen Vortrag vor der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachschaft der Rostocker Universität. Er sprach Über die Gefahr der Zurückdrängung der exakten Naturwissenschaften an den Schulen und Hochschulen und kritisierte - viel beachtet - das Niveau der universitären mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung.   Insbesondere prangerte er die Überlastung der Studenten durch politische Schulungs- und Wehrlager an, indem er sagte:

"Wir brauchen auch die Sportplätze und Exerzierplätze der Schulung des Gehirns und der Konzentrationsschulung für die geistigen Fachsoldaten des nationalsozialistischen Reiches."

Damit erschütterte er die Legitimation der sich revolutionär gebärdenden und über die Anforderungen solider Studienarbeit hinwegsetzenden NS-Studentenfunktionäre [2] und der eifrigen Vertreter der nationalsozialistischen Dozentenschaft wie des Chemikers Franz Bachér (1894 - 1987). Umkleidet von nationalsozialistischem Wortschatz, den er teilweise von Blaschke [3] übernommen hatte, zeigte sich aber auch Thomsens nationalistisch-elitär geprägtes Denken: 

"Wir müssen uns klar sein, dass in einem künftigen Kriege ein erfinderischer Kopf, der ein neues Kampfmittel ersinnt, wichtiger sein kann als tausend Soldaten."

Nach dem Vortrag sollen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden sein, entsprechende Akten sind nicht mehr auffindbar, es bleibt unklar, ob diese tatsächlich mit Thomsens Ausführungen zusammenhingen. Am 4. Januar 1934 beging Thomsen Selbstmord, er ließ sich vom Frühschnellzug Warnemünde-Hamburg bei Papendorf überfahren.

Sowohl die damalige Tagespresse als auch Ausführungen des späteren Rektors Kurt Wachholder (1893 - 1961) während seines Entnazifizierungsverfahrens 1946 sprechen für einen Suizid, in älterer Literatur wird dieser als "vermutlich politisch motiviert" [3,4,5] gewertet. Wachholder berichtete von einer Sitzung des Konzils, in der ein Professor, dessen Namen er vergaß, Partei gegen Beschimpfungen von Kollegen durch Bachér ergriff, aber am Folgetag Selbstmord beging. Infrage kommt nur Thomsen. Die wahren Gründe für Thomsens Tod sind bis heute unklar [6]. Sein Vortrag wurde 1934 vollständig in Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung und 1944 in Teilen in Physikalische Blätter publiziert.

Curt Schmieden, Foto UAR.

Gegen den ausdrücklichen Wunsch Furchs war 1934 das nun freie Extraordinariat nicht erneut der Reinen Mathematik, sondern im Interesse des rüstungswichtigen Flugwesens (Heinkel-Werke) der Angewandten Mathematik gewidmet worden. Der eigentlich drittplatzierte Curt Schmieden (1905 - 1991) - ausgewiesener Mathematiker, Aerodynamiker, aber auch Mitglied des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps, des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbundes, seit dem 1. Mai 1937 auch Mitglied der NSDAP - erhielt den Ruf nach Rostock, wo er selbst 1923 ein Semester studiert hatte. Schmieden intensivierte die bestehende Zusammenarbeit mit den Heinkel-Werken und hielt Vorlesungen über Praktische Mathematik, Schwingungslehre, Theoretische Aerodynamik und Statik der Metallkonstruktionen [7].

Nachtrag

Furch verlor 1942 bei der Bombardierung Rostocks sein Haus. Seine Frau ging darauf mit den fünf Kindern ins elterliche Haus nach Tübingen, wohin Furch im Februar 1945 folgte. Dort war er 1945/46 kommissarischer Bürgermeister in Tübingen-Lustnau und Mitglied der Entnazifizierungskommission für Süd-Württemberg. Im Frühjahr 1946 erhielt Furch einen Ruf als ordentlicher Professor für Mathematik an der neu gegründeten Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er starb am 7. November 1967 [7].

Schmieden erhielt 1937 einen Ruf als ordentlicher Professor an die TU Darmstadt und übernahm Forschungen für die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt. Ende Oktober 1945 wurde er aus politischen Gründen aus dem Staatsdienst entlassen, jedoch nach dem Entnazifizierungsverfahren und Einstufung als Mitläufer 1946 erneut eingestellt (Emeritierung 1970). 1957/58 war er Rektor der TU Darmstadt. Er starb am 8. Februar 1991 in Darmstadt [10].

Andreas Straßburg

Wir danken Herrn Florian Detjens für seine Hinweise und Kommentare.

Quellen

[1] H. Wefelscheid: Hans Zassenhaus (1912 – 1991). Mitt. Math. Ges. Hamburg 19, 2000, S. 155–166

[2] F.-W. Kersting: Militär- und Jugend im NS-Staat: Rüstungs- und Schulpolitik der Wehrmacht. Wiesbaden, Dt. Univ.-Verl., 1989

[3] G. Tiedt: Gerhard Thomsen 1899-1934. Universitätsarchiv Rostock Nachlass W. Engel, Rostock, 1989

[4] M. Pinl: Kollegen in einer dunklen Zeit. III Teil. JBer. DMV V73, 1972, S. 205-206

[5] W. Engel: Mathematik und Mathematiker an der Universität Rostock 1419 – 2004. Rostock. Math. Kolloq. 60, S. 2005

[6] M.Buddrus, S. Fritzlar: Die Professoren der Universität Rostock im Nationalsozialismus, München: Saur 2007, S. 404

[7] W. Benz, G. Ewald: Robert Furch zum Gedächtnis. Jber. Deutsch. Math.-Verein. 72 (1970) S. 63- 69

[8] Eintrag von "Robert Furch" im Catalogus Professorum Rostochiensium,
URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00001315

[9] Eintrag von "Gerhard Thomsen" im Catalogus Professorum Rostochiensium,
URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00001318

[10] Eintrag von "Curt Schmieden" im Catalogus Professorum Rostochiensium,
URL: http://purl.uni-rostock.de/cpr/00001319